Überlegungen des Vorstands zur Profilbildung der Schulpsychologie in Bayern

Vermehrt werden an den LBSP wegen des unklaren Profils der schulpsychologischen Tätigkeit Unmutsäußerungen von Seiten seiner Mitglieder herangetragen, verbunden mit der Aufforderung, sich für eine schärfere Profilbildung der Schulpsychologie einzusetzen. Im Rahmen der beginnenden strukturellen multiprofessionellen Zusammenarbeit und in Zeiten, die von den Folgen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine geprägt sind, herrscht vielerorts bei den Schulpsycholog*innen Orientierungsbedarf hinsichtlich der Grundlagen ihrer schulpsychologischen Tätigkeit.

Der Verfasser plädiert für eine Erweiterung der schulpsychologischen Tätigkeit im Bereich der klinischen Psychologie. Wobei er davon ausgeht, dass eine Spezialisierung der Schulpsychologie in verschiedene Teildisziplinen der Psychologie die künftige berufliche Entwicklung von Schulpsycholog*innen mehr noch als heute abbilden wird. Die schulpsychologischen Tätigkeitsschwerpunkte werden sich im Laufe der beruflichen Entwicklung ändern. Je nach Interesse, Aufgabenübertragungen oder Positionierung im Schulsystem werden sich schulpsychologische Einzelfallarbeit, Arbeit mit Gruppen oder die Tätigkeitsbereiche Lehrergesundheit oder Krisenintervention im Laufe der Berufsbiografie abwechseln.

In der Regierungserklärung „Das Beste für Bayern“ vom 18. April 2018 findet sich unter Punkt VI des 10-Punkte-Programms für Bayern folgende Formulierung:

„Unter dem Motto „Schule öffnet sich“ sollen externe Fachkräfte dazukommen. Wir starten das Programm „Schulsozialarbeit“ mit 500 Schulpsychologen und Sozialpädagogen als multiprofessionelle Teams [Hervorhebung d. V.].“

Diese Formulierungen, die aus Sicht des LBSP der Positionierung der Schulpsychologie in Bayern einen eigenen Akzent verleiht, führen in der Umsetzung nicht nur zu einer Verdoppelung der Stellenäquivalente für die Schulpsychologie nach dem Ende der Aufwuchsphase im Jahr 2023. Nach Erkenntnissen des LBSP wäre das ein Volumen von ca. 600 Stellenäquivalenten, verteilt auf ca. 1000 Schulpsycholog*innen aller Schularten in Bayern. Mit dem Terminus multiprofessionelle Teams ist auch eine zukunftsweisende Entwicklung für die Unterstützung von Schulen eingeleitet. Der LBSP hatte in seinen politischen Kontakten immer wieder auf die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit an Schulen hingewiesen.

Ob und welche anderen Professionen diese Teams künftig umfassen sollen, bedarf der weiteren Klärung.

Derzeit bilden also zwei akademische Berufssparten das multiprofessionelle Hauptgerüst. Die Schulpsycholog*innen als Berufspsycholog*innen und die pädagogisch orientierten Berufsprofile: Schulintern: Lehrkräfte verschiedener Schularten, auch mit einer zusätzlichen pädagogischen Qualifizierung oder mit zusätzlichen Aufgabenbereichen: Beratungslehrkräfte, Sonderpädagog*innen v.a. im MSD. Und als schulexterne Fachkräfte Sozialpädagog*innen, die als organisationsinterne Schulsozialpädagog*innen oder als organisationsexterne JaS-Fachkräfte tätig sind.

Schulpsycholog*innen und Beratungslehrkräfte bilden die beiden Säulen der Schulberatung ab (Art 78,1 BayEUG). Sonderpädagog*innen des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes sowie Schulsozialpädagog*innen sind demzufolge nicht Konstituenten der Schulberatung.

Für die Aufgaben und Tätigkeitsprofile der einzelnen Berufsprofile liegen gesetzliche und administrative Vorgaben vor.

  • Schulberatung: Art. 78,1 und KMBek zur Schulberatung in Bayern vom 23.11.2001
  • Schulsozialpädagogik: Art. 60,3 BayEUG sowie die KMBek Schulsozialpädagoginnen und Schulsozialpädagogen im Programm „Schule öffnet sich“ vom 11.12.2020
  • Sonderpädagogik: Art. 21 BayEUG sowie auf der Grundlage von Art. 21, Abs. 1 und 2: Informationen zum MSD: Herausgeber: Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung
  • Jugendsozialarbeit an Schulen: Richtlinie zur Förderung der Jugendsozialarbeit an Schulen – JaS. Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales vom 25.03.2021

Die Tätigkeiten in psychosozialen Berufen sowie die in klinisch-psychologischen und ärztlichen Kontexten lassen sich mit Parametern wie Diagnostik und Beratung/Intervention charakterisieren.

So finden sich in den o.g. Verlautbarungen Termini wie: Sozialpädagogische Diagnostik, sonderpädagogische Diagnostik, psychologische Diagnostik. Nicht explizit erwähnt wird darin die pädagogische Diagnostik. Entsprechend werden Tätigkeitsfelder benannt: sozialpädagogische Beratung, sonderpädagogische Beratung, pädagogisch-psychologische Beratung und schulpsychologische Beratung. Eine Begriffsvielfalt, die, weil für den Gebrauch in der Praxis ungenügend expliziert, als Begriffsdiffusion erscheint.

Eine trennscharfe inhaltliche Unterscheidung der Parameter Diagnostik/Beratung allein aufgrund einer Berufsgruppenzugehörigkeit erscheint per se nicht durchgängig evident. Die attributiven Adjektive bei den Parametern Diagnostik/Beratung bedürfen einer inhaltlichen Klärung. Die konkrete Fragestellung dazu lautet: Worin unterscheidet sich die schulpsychologische Diagnostik/Beratung von der sonderpädagogischen, sozialpädagogischen und pädagogischen Diagnostik/Beratung?

Am Beispiel Thema Depression:

Richtlinien zur Förderung der Jugendsozialarbeit an Schulen
Punkt 1.2.3.
Als Kernaufgabe der JaS wird die Beratung der jungen Menschen (Einzelfallhilfe) beschrieben.

Unter Punkt 1.2.1.

„1  JaS richtet sich an junge Menschen mit sozialen und erzieherischen Problemen, die zum Ausgleich von sozialen Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen [Hervorhebung d. V.] in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind.

2  Die Bedarfe zeigen sich insbesondere in Form von erheblichen erzieherischen, psychosozialen und familiären Problemen, Schulverweigerung, plötzlichem Leistungsabfall, erhöhter Aggressivität und Gewaltbereitschaft, Mobbing, sozialer Isolation, Einsamkeit und depressiven Zügen [Hervorhebung d. V.].“

Quelle:

Richtlinie zur Förderung der Jugendsozialarbeit an Schulen – JaS. Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales vom 25.03.2021

In der KMBeK Schulberatung in Bayern aus dem Jahr 2001 taucht der Begriff Depression überhaupt nicht auf, es ist nur allgemein von speziellen und akuten Krisen die Rede.

Unter Punkt 1.2.

„Die pädagogisch-psychologische Beratung hilft bei der Bewältigung von Schulproblemen wie Lern- und Leistungsschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten und schulischen Konflikten.“

Unter Punkt 3.2.1.

„Der Schulpsychologe hilft durch geeignete psychologische Interventionen zur Bewältigung von speziellen und akuten Krisen und vermittelt ggf. weitergehende Beratungsmaßnahmen“.

Quelle:

Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 29. Oktober 2001

Im 10-Punkte-Programm zur Aufklärung über Depressionen und Angststörungen an Schulen, veröffentlicht auf der Homepage des KM am 07.05.2019, wird vermerkt:

„Schulpsychologinnen und Schulpsychologen tragen aus ihrer fachlichen Perspektive dazu bei, dass für das Thema psychische Erkrankungen Verständnis in der Schulfamilie geschaffen wird und leisten aktiv einen Beitrag gegen die „Stigmatisierung psychisch Kranker“.“

Und weiter:

„Maßnahmen zur Stärkung der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler werden weiterentwickelt und gezielt auf das Thema Depression zugeschnitten.“

Der Auftrag an die Schulpsychologie ist nicht konkret genug abgebildet, er eröffnet zu große Interpretationsspielräume. Man kann aus dem 10-Punkte-Programm einen Auftrag der Schulpsychologie zur Psychoedukation bei depressiven Entwicklungen von Schüler*innen ableiten. Welche Maßnahmen zur Stärkung der Persönlichkeit und welche davon von Schulpsycholog*innen durchgeführt werden sollen, wird nicht formuliert.

Was ergibt sich daraus für die konkrete Tätigkeit der Schulpsychologie für den Bereich Depression?

Es könnte geschlussfolgert werden, dass die Zuständigkeit für die Erkennung und Abmilderung von individuellen depressiven Entwicklungen unterhalb einer manifesten Erkrankung bei Schüler*innen demnach nicht dem Aufgabenbereich der Schulpsychologie obliegt. Dies würde dem Selbstverständnis vieler Schulpsycholog*innen entgegenstehen und zu Verunsicherung führen.

Die Segmentierung der Aufgaben der multiprofessionellen Teams vor Ort bzgl. der Zuständigkeit für depressive Erscheinungsformen muss an vielen Schulen immer wieder neu ausgehandelt werden.

Diese Aushandlung der Schnittstellen ist erschwert, da eindeutige schriftliche Vorgaben zur Zuständigkeit der Schulpsychologie dazu fehlen.

Am Phänomen der Depression zeigt sich, wie unterschiedliche Paradigmen in der Schule aufeinanderstoßen und die multiprofessionelle Arbeit erschweren können, wenn sie ihren Zuständigkeitsbereich nicht deutlich aufeinander abgestimmt haben.

Als Zielgruppe für JaS werden unter dem aus den disability-studies der 1980er Jahre stammenden sozialrechtlichen Parameter der Beeinträchtigung junge Menschen genannt, die aus dem Bereich des normalen Erlebens und Verhaltens herausfallen. Eine Beeinträchtigung umfasst körperliche und psychische Funktionsbereiche – also damit auch den gesamten Bereich des Lernens und der psychischen Fehlentwicklungen.

In dieser sozialrechtlichen Tradition gliedert sich auch die Sonderpädagogik über den Begriff der Behinderung ein. Von einer Behinderung wird gesprochen, wenn eine Beeinträchtigung länger als 6 Monate anhält.

Der Terminus Störung (synonym für psychische Krankheit) aus der medizinisch-klinisch-psychologischen Tradition fehlt in der KMBek zur Schulberatung aus dem Jahr 2001 ebenso wie im 10-Punkte-Programm des Kultusministeriums. Die Schulpsychologie fußt in ihrer wissenschaftlichen Expertise für die Schulen auch auf dem Bereich der klinischen Psychologie.

Die Nichtberücksichtigung der Aspekte der klinischen Psychologie resultiert aus dem ursprünglichen Ansatz der Schulberatung aus der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts, Schwierigkeiten bzw. Auffälligkeiten aller Art als den (statistischen) Normalbereich schulischer Beratungsanlässe zu definieren und sich folgerichtig als dafür zuständig zu erklären.

Welche Forderungen leitet der LBSP aus der dargelegten Situation ab?

Nicht nur für den Bereich Depression, auch für den Umgang mit weiteren Störungen im emotionalen, motivationalen und exekutiven Bereich müssen die Rahmenbedingungen neu justiert werden. Folgende Schritte erachtet der LBSP als zielführend:

  1. Novellierung der KMBek Schulberatung in Bayern aus dem Jahr 2001

Für genuine psychologische Tätigkeitsfelder im schulischen Feld müssen eindeutige begriffliche Explikationen, klare Zuständigkeiten und federführende Verantwortungsbereiche definiert werden, die sich an Kriterien wie berufliche Kernkompetenz, Verantwortung gegenüber der Klientel und Qualitätssicherung orientieren.

Insbesondere sind begrifflich trennscharfe und berufsbezogene tätigkeitsspezifische Profile für die Schulpsychologie und für die Beratungslehrkräfte zu definieren. Gemeinsame Zuständigkeiten führen, wie die Praxis vielfach gezeigt hat, zu Profil- und damit auch zu Niveaunivellierungen.

  1. Modifikation des Mindsets in der Administration bzgl. des Verständnisses der Arbeit von Schulpsychologie

In die Tätigkeit der Schulpsychologie muss der klinisch-psychologische Aspekt der wissenschaftlichen Psychologie stärker einbezogen werden. Schüler*innen tragen die Folgen von Störungsbildern aus außerschulischen Feldern in die Schulen hinein. Für die Wirksamkeit der Schulpsychologie muss die Organismusvariable „seelische Gesundheit von Schüler*innen“ mehr in den Fokus gerückt werden, neben den psychosozialen Folgen einer Störung der seelischen Gesundheit. Die Schulpsychologie muss sich in der heutigen Realität, die von den Pandemiefolgen und von Kriegsängsten geprägt ist, verstärkt der aus der Balance geratenden seelischen Gesundheit annehmen, sie muss sich auch für den Bereich der Störung zuständig zeigen. Das Outsourcen der Zuständigkeit für seelische Störungen an Jugendsozialarbeit an Schulen unter dem Label der Beeinträchtigung oder an die ambulante und stationäre Psychotherapie entspricht nicht mehr den Erfordernissen der Realität an Schulen.

  1. Federführung der Schulpsychologie in klinisch relevanten Feldern

Eine sinnvolle Tätigkeit in multiprofessionellen Teams erfordert die fachliche Federführung der Schulpsychologie im Bereich der gesundheitlichen Störungen, was die Arbeit an und mit den einzelnen Schüler*innen angeht. Dieser Aspekt muss sich auch in der Novellierung der KMBek Schulberatung in Bayern vom 29.10.2001 niederschlagen.

  1. Konkretisierung der schulpsychologischen Tätigkeit

Die Tätigkeit bezieht sich einmal auf den Bereich Prävention im Sinne von Gerald Caplan 1964, die am Zeitfaktor orientiert ist. Der primären Prävention inhärent ist dabei die Federführung in der Früherkennung und frühen Abmilderung von beginnenden Symptomen mit Störungshinweisen sowie deren Korrelationen und Folgeerscheinungen im Erleben und Verhalten.

Ebenso muss bei der tertiären Prävention (Rückfallprophylaxe) der Schulpsychologie bei den in den Schulen tätigen Professionen die fachlich führende Rolle zugeschrieben werden, sowohl im Rahmen einer ambulanten psychotherapeutischen/fachärztlichen Begleitung als auch für den Bereich der Wiedereingliederung nach einer stationären Behandlung einer psychischen Störung.

Im Präventionsgedanken von Robert S. Gordon 1983 stehen drei Zielgruppen mit der Kennzeichnung indiziert, selektiv und universell im Fokus. Insbesondere die indizierte Prävention, die die Stabilisierung von Einzelpersonen mit manifester Gefährdung der seelischen Gesundheit (Prodromalstadium) umfasst, muss einem schulpsychologischen Monitoring unterliegen.

Für diese Präventionsinhalte ist es vonnöten, den Begriff „psychologische Beratung“ zu explizieren. Psychologische Beratung im beschriebenen präventiven Kontext umfasst mehr als die Weitergabe von Informationen, sie zielt auf eine gezielte und fundierte Veränderungsarbeit im und mit dem Mindset des Klienten über die Medien Sprache und Handlungstools. Die Anwendung von Handlungstools, zu welchem u.a. Entspannungsverfahren und Elemente aus der Verhaltensmodifikation gehören, werden unter dem Terminus der schulpsychologischen Behandlung subsumiert. Da diese Tools nicht auf Klientel mit einer manifesten Störung angewendet werden, stellen sie keine heilkundliche Tätigkeit dar, sondern einen klinisch-psychologisch orientierten Tätigkeitsaspekt im prä-bzw. postklinischen Setting.

Somit wird der Blick auf eine seit langem offene, aber unbedingt zu beantwortende Frage gelenkt, die lautet:

Welche Profession ist in welchem schulischen Arbeitsfeld für welche Tätigkeiten aufgrund ihrer Fachlichkeit originär zuständig?

Für den Vorstand

Hans-J. Röthlein, 1. Vorsitzender

Kommentar verfassen