Ingo Hertzstell: Elena Prochnow: Pass bloß auf deinen Daumen auf!
Aachen, Edition Pastorplatz, 2021
Es ist schon faszinierend, wie Elena Prochnow mit wenigen Worten und Bildern ein Geschehen skizziert, das gemeinhin als Mobbing zu bezeichnen ist. Und eine Lösung findet, die Mut macht.
Ein Schüler – Florian – drangsaliert mit Unterstützung von drei anderen Jungen eine Mitschülerin – Mimi. Im Laufe mehrerer Tage schreit er sie an und beschimpft sie, Sachen von ihr verschwinden und werden beschädigt im Müll gefunden; und sie wird auch körperlich attackiert.
Das sind letztlich psychische Verletzungen, die Mimi zugefügt werden. Mobbing ist in der Schule gar nicht so selten. Oft bleibt es zunächst unbemerkt, die Betroffenen versuchen aus Angst und Scham, irgendwie damit zurechtzukommen, es bedarf ziemlicher Überwindung, sich zur Wehr zu setzen oder sich Hilfe zu holen. Die Schulregeln verbieten es, sich mit anderen zu schlagen, andere zu verpetzen kommt auch nicht gut an, und die möglichen Helfer sind häufig selbst hilflos.
Das muss auch Mimi erfahren. Ihre Mutter rät ihr, sich zu wehren. Und sie ruft die Lehrerin an, die ihrerseits Mimi nur den Ratschlag gibt, Florian und den Jungen aus dem Weg zu gehen.
Das ist keine adäquate Lösung. Die Erfahrung zeigt, dass es wichtig ist, das Mobbing durch klare Ansagen zu unterbinden. Gemobbte Kinder sind unbedingt zu schützen, mobbende Kinder müssen gebremst und zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn eine Lehrkraft sich überfordert fühlt, kann sie sich beraten lassen oder beispielsweise die Schulpsychologin bzw. den Schulpsychologen hinzuziehen.
In Elena Prochnows Buch gibt es zum Glück den Opa. Er unterstützt Mimi, indem er ihr erklärt, wie man boxt und dabei seinen Daumen schützt. Er stärkt ihr Selbstvertrauen, er macht ihr Mut, sich nichts gefallen zu lassen, ihre Angst zu besiegen und so gegen Florian zu gewinnen. Und er zeigt sich solidarisch: Die Schulstrafe auf der roten Bank würden sie gemeinsam ertragen. Und am Ende stellt er Mimi noch eine Belohnung in Aussicht.
Das ist natürlich eine wunderbare Lösung! Leider ist sie in der Praxis eher selten. Was aber zum Ausdruck kommt, ist die Bedeutung einer kompetenten Person, die dem gemobbten Kind zuhört, es tröstet, ermutigt und mit ihm nach Lösungen sucht im Umgang mit dem mobbenden Kind und seinen Unterstützern, letztlich aber auch mit den Klassenkameradinnen und Klassenkameraden, die das Mobbinggeschehen durch ihr passives Verhalten indirekt unterstützen.
Mimi geht gestärkt und selbstbewusst in die Schule, mit klaren Vorsätzen, wie sie den Jungen begegnen wird. Und sie gewinnt! Florian und seine Anhänger halten Mimis Blick nicht stand. Und so erhält Mimi am Ende doch noch ihre Belohnung.
Meist suchen sich die mobbenden Schüler oder Schülerinnen schwächere Kinder aus, bei denen kaum mit Gegenwehr zu rechnen ist. Hier ist es die Bestimmtheit der Vorsätze, die die Schülerin stark macht. Die gedankliche Beschäftigung mit der richtigen Haltung der Daumen lässt die Angst in den Hintergrund treten, der Wille, sich nichts mehr gefallen zu lassen, ist deutlich spürbar. Der plötzliche Widerstand überrascht die Jungen, verunsichert sie und durchkreuzt etwaige weitere Mobbingabsichten.
Mit seiner auf das Wesentliche reduzierten unaufgeregten Darstellung des Mobbinggeschehens in einem überschaubaren Zeitraum – Zeitraffer von Montag bis Montag; im Allgemeinen sind es mehrere Wochen oder noch länger – eignet sich das Buch gut für Eltern, Erzieherinnen / Erzieher oder Lehrkräfte, um mit Kindern bis zur 2. Grundschulklasse über Mobbing zu sprechen.
Wie es überhaupt sinnvoll ist, das Thema vorbeugend anzusprechen und auf die Folgen und Konsequenzen aufmerksam zu machen. Mobbing kann Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihrer Leistungsfähigkeit einschränken, sozial verunsichern, das Selbstvertrauen zerstören und die Betroffenen traumatisieren bis hin zum Selbstmord.
Wird akutes Mobbing in einer Schulklasse aufgedeckt, gibt es etliche praxiserprobte Interventionsstrategien: konfrontative Methoden ebenso wie Ansätze für ein gutes Klassenklima.
Dabei sollte nicht vergessen werden, dass selbst diejenigen, die andere mobben, Verständnis und Hilfe brauchen, die auch darin bestehen kann, Grenzen zu setzen. Sie auf die „rote Bank“ zu setzen und damit an den Pranger zu stellen, entspricht nicht dem heutigen pädagogischen Verständnis. Besser sind Gespräche und eventuell ergänzend ein Sozialtraining.
Ingo Hertzstell (ingo.hertzstell@lbsp.de)
Mehr zu dem Buch einschließlich Leseprobe und zur Autorin und Illustratorin unter https://www.editionpastorplatz.de/index.php/buecher/kinderbuecher/bilderbuecher/190-pass-bloss-auf-deinen-daumen-auf